„Überleben ist Glück und Bürde zugleich“ - Dr. Boris Zabarko mahnt zur Erinnerung an die Shoah
Der ukrainische Shoah-Überlebende und Historiker Dr. Boris Zabarko war am letzten Freitag vor den Weihnachtsferien zu einer Abendveranstaltung im Hansa-Gymnasium Köln zu Gast. Er wurde von dem Ehepaar Margret und Werner Müller begleitet, die mit ihm seit dem Beginn der 1990er Jahren freundschaftlich verbunden sind und drei seiner Bücher in Deutschland herausgegeben haben.
(*Norbert Grümme*, 9. Januar 2023)
Auf dieser Kooperationsveranstaltung des Hansa Gymnasium Köln, des Lern- und Gedenkort Jawne, sowie des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte e.V. berichtete Dr. Zabarko vor ca. 160 Schülerinnen und Schülern, Studierenden, Eltern sowie Lehrerinnen und Lehrern im Studienhaus der BAN sehr persönlich aus seinem Leben als Kind und seinem Überleben als Jude in der Ukraine.
Über 1,5 Millionen Juden wurden in der Ukraine während der Shoah ermordet. Boris Zabarko wurde 1935 dort geboren und ist einer der wichtigsten Forscher zu Thema. Im März 2022 wurde die Situation für den 86-jährigen Shoah-Überlebenden in der Ukraine unerträglich. Gemeinsam mit seiner Tochter und Enkeltochter floh er auf abenteuerlichen Wegen über Lwiw und Budapest nach Deutschland, also ausgerechnet in das Land, das ihn vor 80 Jahren systematisch verfolgt hatte.
Boris Zabarko wurde am 18.11.1935 in Kalininske geboren, studierte und arbeitete in Czernowitz am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen SSR. Von 1971 bis 1991 war er Mitglied der Sowjetisch-Deutschen Historikerkommission und legte eine Vielzahl - insgesamt über 200 - von Aufsätzen und Büchern vor, auch über die Shoah, obwohl das Thema in der UDSSR ein Tabu war.
Etwa 2,7 Millionen Juden lebten vor dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion in der Ukraine, zumeist in den großen Städten wie Kiew, Charkiw, Dnipro und Odessa. Fast alle jüdischen wehrfähigen Männer wurden 1941 in die Rote Armee eingezogen, so wie sein Vater auch.
Boris Zabarko sammelte als Überlebender über Jahrzehnte das Wissen über die Shoah in der Ukraine. Das nun auch in Deutschland bekannte fürchterlichste Massaker sei das von Babyn Jar gewesen, so berichtet Zabarko, bei dem am 29. und 30. September 1941 innerhalb von 48 Stunden 33771 jüdische Frauen, Kinder und vor allem ältere Männer innerhalb von nur 48 Stunden von zumeist jungen deutschen Soldaten der Wehrmacht und der SS kaltblütig vor allem per Genickschuss ermordet wurden.
Boris Zabarko erzählt an diesem Abend sehr persönlich aus seinem bewegenden Leben, ohne dabei von Fragen angeleitet zu werden. Einen Teil seiner Kindheit musste er im Ghetto Schargorod in Transnistrien verbringen, das von 1941 bis 1944 unter deutschem Einfluss stehendes rumänisches Besatzungsgebiet war. Zabarko entschuldigt sich bei seinen Zuhörenden für seine detailreiche Beschreibung der unmenschlichen Verhältnisse in diesem Ghetto: keine Heizungen, keine Wasseranlagen und überall Krankheiten, Epidemien und vor allem Hunger! „Wir wurden nicht vergast, aber ganz viele starben an den Seuchen und den Umständen im Ghetto“. Er betont dabei, dass er gemeinsam mit seiner Mutter, dem kleinen Bruder und dem erst 17-jährigen Onkel Glück im Unglück hatten: „Wir hatten Glück - wir waren in der Rumänischen Zone - wären wir in der Deutschen Zone, wären wir alle tot.“ Dennoch - es sei die Hölle gewesen: Er berichtet u.a. von einem 2-jährigen Kind, das ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. Es kniete schreiend vor der toten Mutter und konnte es nicht verstehen. Die vielen Toten lagen auf den Straßen, wurden dort ausgezogen, weil die noch Lebenden deren Kleidung brauchten. Die Leichen wurden auf dem tiefgefrorenen Friedhof zu größeren Haufen gestapelt. Die Selbstmordrate sei zudem hoch gewesen. Zabarko schildert die eigene Rettung, die er einerseits den Umständen zu verdanken habe, denn der rumänische Polizeichef hätte die Juden von Schargorod zunächst verschont. Zum anderen habe die Freundin der Mutter, Anna Samborski, ihn, seine Mutter und den kleinen, erst zweijährigen Bruder aus einer lebensbedrohlichen Lage in einer Scheune retten können, weil sie mit einem hochrangigen rumänischen Polizisten befreundet war. Sie gab sich unter Einsatz ihres eigenen Lebens als Schwester seiner Mutter aus. Alle anderen wurden in der Scheune eingesperrt und dann dort verbrannt.
Vor dem Krieg hätten Juden und Ukrainer friedlich zusammengelebt. Während der Zeit der Besatzung der Ukraine durch die Deutschen hätte einige Ukrainer Juden versteckt, obwohl es lebensgefährlich gewesen sei, andere aber hätten die Deutschen beim Erschießen von Juden unterstützt. „Es gab nicht so viele Helden, aber es gab sie! Leider gab es mehr, die die Deutschen unterstützt haben!“ Anna Samborski sei so eine Heldin gewesen, die nunmehr seit 2002 von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ geehrt wird.
Boris Zabarko beendet den etwa 2-stündigen Abend mit einer wichtigen Botschaft an die vor allem jungen Zuhörenden: Er habe in den letzten Jahrzehnten über 600 Zeitzeugenaussagen für die künftigen Generationen gesammelt, damit die Erinnerung an die Shoah bleibe. „Ich werde den Holocaust niemals vergessen. Wir sind die Letzten, die ihn überlebt haben und ihr seid die Letzten, die einen Zeitzeugen erlebt haben! Vergesst das nie!“ So bittet er abschließend: „Ich verlange nicht viel, aber dass jeder ein Mensch bleibt! Setzt euch ein für eure Mitmenschen, setzt euch ein für eine Gesellschaft ohne Rassismus und Antisemitismus! Bleibt tolerant und wartet nicht, wenn die Gesellschaft unmenschlich wird!“
Bücherhinweise:
Boris Zabarko (Autor), Werner Müller (Hg.) (2009): Nur wir haben überlebt. Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse und Dokumente (Dietrich)
Margret Müller/Werner Müller/Boris Zabarko (Hg.) (2019): Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse von Überlebenden: Metropol Verlag
Werner Müller (Hg.) (2001): Aus dem Feuer gerissen. Die Geschichte des Pjotr Ruwinowitsch Rabzewitsch aus Pinsk (Dittrich Verlag 2001).